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Julia Franck (Julia Franck ist deutsche Schriftstellerin), Liebediener
Er sprang mit einem Sprung vom Parkplatz. Ich bin sicher, sein Auto hat die Frau nicht mal angefasst. Sie wollte die Straße überqueren, ein paar Meter vor ihm, ich meinte, er hätte sie nicht gesehen, wie er aus dem Parkplatz sprang – vielleicht mit dem Kopf nach hinten, um sicherzustellen, dass von dort kein Auto die Straße hinaufkam, oder er sah mich an – aber als es ihn mit einem Sprung nach vorne warf, sprang sie von seinem Auto weg, in die Mitte der Straße. Die Straßenbahn quietschte in der Kurve. Der dumpfe Aufprall war kaum hörbar. Der Mann muss viel Zeit beim Parken verloren haben, er war sicher in Eile. Es hat nicht aufgehört. Für einen Moment meinte ich, sein Auto wurde langsamer, ein gedehnter Moment, von dem er wegging: eine Sekunde der Stille. Vielleicht suchte er eine Kassette im Handschuhfach oder beugte sich nach einer Zigarette, die ihm aus dem Mund gebrannt war, weil ihn die Mühe des Parkens aus dem Rhythmus gebracht hatte und er schon dort war, wo er hinwollte. Die 50 standen, aufrecht, unerschütterlich, gelb, der letzte Wagen (The Last Wagon ist ein 1956er Western mit Richard Widmark) hing noch in der Kurve. Aus der Ferne sah ich den Straßenbahnfahrer aussteigen, fast über das hoch aufragende Bein der Frau stolpern, sich zu ihr hinunterbeugen, die Frau war teilweise vom Bug
seiner Straßenbahn bedeckt, er sah, dass die Räder seiner Straßenbahn ihre Brust unter sich gezogen und fast unter ihr begraben hatten, er kletterte zurück in sein Fahrerhaus, setzte sich in seinen Stuhl und ließ die Straßenbahn ein paar Meter rückwärts fahren. Neugierige Gesichter klebten an den Fenstern, gierig nach etwas, das die plötzliche Verlangsamung erklären könnte. Aber es gab auch Kinder unter ihnen, die nur zu ihren Ostereiern gehen wollten. Im ersten Waggon hatte sich der Vorfall bereits herumgesprochen, ich sah dies deutlich, man kommunizierte mit den Händen, gab Zeichen durch die schmutzigen Fenster der Straßenbahn, die Menschen in den Waggons waren aufgestanden. Der Fahrer stieg ein zweites Mal aus und lehnte sich über die auf seinen Schienen liegende Frau. Ich bin näher gekommen. Klebte ihre Locken an Arm und Hals, qfür über dem Bauch, und einige hingen noch an den Stahlrädern, drei Meter entfernt, und flatterten im Wind. Die Frau war voller Blut. Ihr Blut war in den Schienen. Der Straßenbahnfahrer stieg in seine Straßenbahn zurück, öffnete das Schiebefenster zwischen seiner Kabine und dem Fahrgastraum, beugte seinen Oberkörper nach vorne und bewegte seine Lippen, in einiger Entfernung konnte ich nicht hören, was er sagte, es war möglich, dass seine Stimme ihm kaum gehorchte, ein Fahrgast trat auf ihn zu und hielt ein Telefon heraus, der Fahrer, noch gebeugt, schob das Telefon mit seiner flachen Hand von ihm weg. Der Passagier hat wahrscheinlich selbst die Polizei gerufen.