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Heinrich Böll: Die verlorene Ehre von Katharina Blum Literaturkritik der Zeit
Textbasis:
Heinrich Böll: Die verlorene Ehre von Katharina Blum. Oder: Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann. Erzählung, DTV, München ; 1995, darunter: Nachwort des Autors: Zehn Jahre später
Bitte beachten Sie die Quellen-Aussagen in Kapitel 1 (Seite 7) und die Tatsache, dass Böll den Text in seinem Nachwort als Faltblatt (Seite 140) bezeichnet.
Der Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum (oder: wie sich Gewalt entwickelt und wohin sie führen kann, ist ein 1974 erschienener Roman von Heinrich Böll) oder: Wie Gewalt entstehen und woin sie führen kann bezieht sich auf die scheinbar reale, d.h. fiktiv-reale Geschichte einer jungen Haushälterin, Katharina Blum, die aufgrund des Terrors, den die so genannte Zeitung ihr zugefügt hat, von einer friedliebenden Person zu einem Verbrecher mutiert. Die gesamte Erzählung basiert also auf reiner Fiktion, die Heinrich Böll repräsentiert und als subjektiver, empirisch-realistischer Autor voraussetzt. Der Autor selbst offenbart sich jedoch nicht im Roman, wie man daran erkennen kann, dass es ohne das Titelblatt und den Nachwort, der zehn Jahre nach dem Roman geschrieben wurde, fast, wenn nicht gar vollständig unmöglich wäre, den Autor zu identifizieren. Der Erzähler des Romans ist somit ein von Böll konzipierter Modellautor, der den Roman wiederum von einer eben
so fiktiven wie realen, anonymen Person erzählen lässt. Erzähler und Modellautor sind beide fiktiv-real und agieren im Kontext eines von Böll geschriebenen und beabsichtigten echten Kampfskripts (im Nachwort vom Autor selbst als Pamphlet bezeichnet). Die Tatsache, dass der Roman eine andere Bedeutung hat, d.h. dass er die Absicht des Autors suggeriert, unterstreicht einmal mehr die Subjektivität dieses Buches. Dennoch behauptet der fiktiv-reale Erzähler, objektiv zu sein, was darauf hindeutet, dass der eigentliche Autor selbst ebenso objektiv ist. Die Tatsache jedoch, dass auch der fiktiv-reale Erzähler behauptet, verschiedene Quellen im Rahmen eines besseren Flusses des Romans zu verbinden (siehe Seiten 7 und 8), zwingt geradezu zur Erkenntnis, dass selbst der fiktiv-reale Erzähler äußerst subjektiv ist. Dennoch erweist sich der fiktiv-reale Erzähler (ich erlaube mir von nun an, ihn nur noch einen Erzähler zu nennen) als objektiver Rekorder realer Ereignisse, der zur spannenden Gestaltung des Romans beiträgt, soweit er als solcher nicht allwissend ist und somit bestimmte Informationen weglassen kann, ohne den Eindruck einer bewussten Zurückhaltung zu erwecken. Durch diese gefälschte Objektivität ist es dem Erzähler, dem fiktiv-realen Modellautor und natürlich vor allem dem Autor möglich, die Erzählung zeitlich zu verschieben. So beginnt das Ende der Veranstaltung, wobei dem Leser jeder Hintergrund vorenthalten wird, der für ein vollständiges Verständnis ebenso notwendig wie unerlässlich ist. Nach einer protokollartigen Darstellung des letzten Tages der Erzählung ist es an dieser Stelle angebracht zu sagen, dass das gesamte Geschehen im Roman in fünf aufeinander folgenden Tagen stattfindet, gefolgt von präzisen, im Wesentlichen Blum-fixierten Beschreibungen der restlichen Tage. Dieser eigenwillige Umgang mit fiktiv-reellen Informationen ist der einzig mögliche Weg, dem angeblichen Protokoll diese Dimensionen zu geben (137 Seiten). Die inhaltliche Lücke, die das Privatleben oder die Intimität der Hauptfigur zu verschlingen scheint, betont einmal mehr die bereits siebartigen Löcher und die weitgehend fragwürdige Objektivität der Darstellung. Abgesehen von bestimmten stilistischen Details, die die humanistische und andere Ausbildung des Autors offenbaren, ist der Handlungskern mit dem eines Penny-Romans vergleichbar. Aber die besondere Bedeutung des ganzen Buches (zumindest meiner Meinung nach) ist die zweite Dimension, d.h. die des Kampfskripts. Von nun an kann nur noch der eigentliche Autor, Heinrich Böll (Heinrich Theodor Böll war einer der bedeutendsten deutschen Nachkriegsautoren), zur Rechenschaft gezogen werden. Seine Absicht, dem Buch den Charakter einer Broschüre zu verleihen, ist für einen erfahrenen Leser (z.B. einen Meta-Leser oder einen idealen Leser, wie es Umberto Eco (Umberto Eco war ein italienischer Schriftsteller, Literaturkritiker, Philosoph, Semiotiker und Universitätsprofessor) ausdrücken würde) offensichtlich und kann von einem ungeschulten Leser im Nachwort gelesen werden, also ist es ebenso wahr wie die Tatsache, dass Böll der eigentliche Autor ist. Böll wendet sich mit diesem Roman bewusst gegen die Bildzeitung, nennt sie aber in der Geschichte ZEITUNG, um nicht strafrechtlich verfolgt zu werden. Die Zeitungsartikel ähneln jedoch ironischerweise überhaupt nicht den wahren Bildartikeln, was einen weiteren Aspekt der im Buch enthaltenen Polemik offenbart. Mit diesem Roman will der Autor zum Ausdruck bringen, dass die Bildzeitung und ihre Journalisten skrupellos sind und nicht davor zurückschrecken, mit ihrer durchdringenden und möglicherweise illegalen Arbeitsweise Menschenleben zu zerstören oder zumindest zu stören. An dieser Stelle muss man kurz die Eigenschaften von Katharina Blum beschreiben, die ihr zum wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg oder Aufschwung verhalf und schließlich zu ihrem Untergang führte. So verkörpert Katharina Blum das deutsche Wirtschaftswunder, ist fleißig, gewissenhaft, effizient, stolz, unpolitisch, weitgehend kooperativ etc. Ohne jemals etwas Unrechtes in ihrem Leben getan zu haben abgesehen davon, dass sie ihrem geliebten Gott zur Flucht verholfen hat wird sie von der Boulevardzeitung als terroristische Schlampe dargestellt und ständig mit falschen Anschuldigungen und Namen bombardiert. Damit wird deutlich, dass der Ansatz der Zeitung zumindest moralisch verwerflich ist, was wiederum im Vergleich zur Bildzeitung nahelegt. So ist es auch sicher, dass es sich um eine Polemik handelt, und der Autor selbst schreibt sie auch in Ihrem Epilog. Die Meinung einiger, dass der Roman als terroristischer Roman einzustufen ist, kann mit einem Lächeln verworfen werden und zeugt von gigantischer Inkompetenz (wenn nicht gar Ohnmacht) im Umgang mit Büchern und jeglicher Art von schriftlichen Dokumenten. Es gibt keine Terroristen im Roman! So einfach ist das! Aber ob es sich um einen Terrorroman handelt, kann diskutiert werden. Man würde wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass letzteres wahr ist, da seitens der ZEITUNG ein anhaltender Terror gegen Katharina Blum besteht. Ergo, der Inhalt ist ein Terrorroman, der funktioniert und als Deckmantel für eine Polemik konzipiert ist. Um noch einmal auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen und damit abschließend zu sagen, dass die Rolle des fiktiv-realen Erzählers (es kann hoffentlich davon ausgegangen werden, dass zumindest jeder Leser dieses Textes mit dem fiktiv-realen Vertrag vertraut ist) darin besteht, den Leser von der Objektivität der Reproduktion der fiktiv-reellen Fakten zu überzeugen und sich selbst nicht als allgegenwärtig-subjektiv darzustellen, aber als objektiver und/oder Minutentaker (Ben McGarvey, bekannt unter dem Künstlernamen Minute Taker, ist ein englischer Singer-Songwriter, Musikproduzent und Multi-Instrumentalist, dessen Stil als Folktronica bezeichnet wurde). Meiner Meinung nach ist dieser Roman ein gelungener Versuch, intensive Kritik an der Bildzeitung und ihrem Medienregime zu üben. Der Autor steht wie die Bildzeitung der Axel Springer AG kurz vor der Strafverfolgung, kann aber nicht verfolgt werden. Diese ironische Nachahmung des Ansatzes der kritisierten Zeitung unterstreicht Bölls Kritik und verleiht dem ansonsten mittelmäßigen Buch eine meisterhafte Note. Der Autor ist bekannt für seine moderate linke Haltung und bestraft die Bildzeitung verbal für ihr unmoralisches und misanthropisches Handeln.